Blaubeere und Schoko
Es ist kurz nach vier. Zwei, jetzt schon drei Minuten nach. Ich fixiere das weisse Zifferblatt mit den schwarzen Strichen, manche länger, manche kürzer. Der dünne, rote Strich mit dem roten Kopf schleppt sich von Strichlein zu Strichlein.
Ich balanciere das Rähmchen neben den Kaffee. Der Mann setzt sich dann allein an einen Tisch und schaut zu, wie sich der Zucker im Kaffee auflöst.
In der Glasvitrine zwei Muffins, 4.50 pro Stück. Blaubeere und Schoko. Es sind die letzten des Tages. Werden sie nicht verkauft, muss ich sie entsorgen. In der Tonne hinter dem Lokal. Ich frage mich, ob die noch bestellt werden. Wenigstens einer der beiden. Vielleicht von den Schülern, die auf den rot-weissen Stühlen sitzen. Die Laptops zugeklappt, die linierten Blätter noch immer weiss. Trinken Bier, plaudern, lachen.
Im Sommer trafen wir uns am Fluss. Machten Jokes, beschwerten uns über Mathe und Französisch, tranken Dosenbier. Dave und Philipp schwärmten von Jael aus der 5b. Ich von Leon aus der 5c. Was ich ihnen aber nicht sagte. Nicht sagen konnte. Nie gesagt habe. Stattdessen nickte ich zustimmend. Das Bier in der Hand gluckste dabei. Leon geschrieben oder angesprochen habe ich nie. Ich wollte es zwar, wie das eine Mal am Kopierer. Und dann doch wortlos an ihm vorbeilief. Ich könnte ihm nachher schreiben. Ihn vielleicht treffen, die Muffins mitbringen. Für jeden einen. Nach der Arbeit, auf dem Nachhauseweg, könnte ich schreiben.
Der Sommer ist schon fast vorbei, und auf der Uhr zeigt der grössere Zeiger nach rechts, steht fast waagerecht. Die Schüler interessieren sich nicht für das Gebäck. Und morgen werden neue Muffins gebacken. Wie jeden Tag. Schoko und Blaubeere. Aber wenn um fünf welche übrig bleiben, landen sie in der Tonne hinter dem Lokal. So sind die Regeln. Die Schüler stehen auf und gehen.
Der kleine Bub am Nachbarstisch weint. Ist durstig, hungrig oder müde. Die junge Mutter drückt ihm das Glacé in die Fäustchen und tippt auf ihrem Natel rum. Hält es vor den Buben, der am rosaroten Kegel schleckt, die Zunge zwischen der Zahnlücke durchschiebt. Sie verschickt die Fotos ins weltweite Datenmeer hinaus und merkt nicht, dass dem Kleinen das Glacé auf die Sommershorts und ihr auf die Tasche tropft.
Glacé essen im Sommer, Mama und ich. Meist nach der Schule, immer am Wochenende. Dann weniger, nachdem Papa auf Betriebsreise ging, aber nicht mehr zurückkam. Und dann nicht mehr, als Mama müde wurde, ganze Tage schlief. Nicht mehr an bunten Kugeln schleckte, sondern bunte Pillen schluckte.
Ich könnte sie besuchen. Die Muffins mitbringen. Ich müsste dann allerdings erklären, woher ich die Muffins hätte und Mama wäre enttäuscht, dass ich in einem Café arbeite und nicht in einem Museum. Dann erklären, dass kein Geld für die Ausbildung da war. Sie würde wissen wollen, warum ich keine Freundin hätte. Sie wäre dann traurig, würde es nicht verstehen, irgendwann weinen. Und nach einer Weile wieder fragen, woher ich denn die Muffins hätte.
Mutter und Bub sind nun aufgestanden, laufen an der Theke vorbei. Der Kleine schaut mich an und ich winke ihm zu. Sage nichts von dem rosa, klebrigen Souvenir auf der Tasche. Sondern zupfe an den Hautfetzchen herum, links und rechts vom Fingernagel.
Die Uhr zeigt nun halb fünf. Ich schaue zur Vitrine. Und die beiden Muffins warten immer noch. Wirken verloren hinter der schrägen Glasscheibe, ausgestellt in der viel zu grossen Präsentationsfläche. Dunkelblaue Flecken und schwarze Stückchen stossen durch die aufgerissene Kruste, die bereits trocken sein wird. Heute Morgen waren da noch Wähen, Cakes, Gipfeli. Ich schiebe die Muffins noch etwas näher zusammen.
Schoko neben Blaubeere. Blaubeere neben Schoko.
Der Mann starrt noch immer auf seinen Kaffee, nimmt dann einen letzten Schluck. Stellt die Tasse hin, verlässt das Lokal. Die Uhr zeigt zehn vor fünf. Ich räume das Geschirr ab, wische mit einem Lappen die Spuren vom Tag weg. Dunkelbraune Kaffeeringe, farbige Glacésprenkel, klebrige Bierresten. Alles, was auf den Mann, die Mutter mit Bub, die Schüler hindeutet. Ich ringe den Lappen aus, braun-pinkiger Schaum tropft in das Becken, riecht nach schalem Bier, fliesst den Abfluss hinab.
Und draussen läuten die Kirchenglocken.
Und ich schaue auf das Zifferblatt.
Und in der Vitrine liegen zwei Muffins.
Blaubeere und Schoko.
Was, wenn noch jemand hineinstürmen, sich für die Muffins interessieren würde? Was ja passieren könnte. Aber nicht passieren wird. Noch nie passiert ist.
Ich nehme die beiden Muffins heraus. Stelle sie zur Seite. Erledige anderes. Bis es nichts mehr anderes zu erledigen gibt. Und überlege mir, ob nicht ich sie nach Hause nehmen sollte. Aber zwei sind zuviel. Den anderen würde ich trotzdem fortschmeissen müssen, in die Tonne hinter dem Lokal. Ich kann mich nicht entscheiden.
Zwischen Schoko und Blaubeere.
Ich nehme die Muffins, in jeder Handfläche einen. Gehe raus, hinter das Lokal zur grauschwarzen Tonne, öffne den Deckel. Schau zu, wie sie fallen, angezogen von der Schwerkraft. Und dann auf dem Müll der letzten Tage landen. Blaubeere neben Schoko. Schoko neben Blaubeere.
Ich werde Leon nicht schreiben. Nicht meine Mutter besuchen. Nicht die Muffins mitnehmen.
Stattdessen schaue ich den Schlund hinab. Beobachte, wie sie daliegen. Neben- und beieinander. Darunter kann ich noch die Muffins vom Vortag erkennen. Und dem Tag davor.
Schoko auf Blaubeere, auf Schoko, auf Blaubeere.